Da die Geisteswissenschaften mit Hilfe der hermeneutischen Mehtode Texte und Kunstwerke auslegen, können mit ihr auch Texte und Zeichen der Liturgie erschlossen werden. Daher wendet auch die Theologie als Wissenschaft die hermeneutische Methode zur Auslegung von Texten an. Eine besonders große Rolle kommt dabei der Auslegung der Bibel zu, weil sie die Ur-Kunde des christlichen Glaubens ist. Die theologische Disziplin, die sich mit der Auslegung der Bibel befasst, heißt biblische Exegese.
Basis für die biblische Exegese ist die sogenannte historisch-kritische Methode. Alle biblischen Texte wurden uns Jahrhunderte hindurch überliefert und sind auch historische Zeugnisse. Die historisch-kritische Methode verschafft nun einen Zugang zu den historischen Fakten, die aus den biblischen Texten ablesbar sind, und hilft dabei, die biblischen Texte aus ihrer Entstehungszeit zu deuten.
Ein sachgemäßes Verstehen dieser biblischen Glaubenszeugnisse wird aber erst durch die Anwendung der hermeneutischen Methode möglich. Anhand des Vorverständnisses durch den christlischen Glauben soll der biblische Text in seiner existentiellen Bedeutung für den heutigen Leser erschlossen werden.
Anders als in der Hermeneutik der Geisteswissenschaften wird in der biblischen Hermeneutik dem biblischen Text der Sinn nicht von einem Menschen, sondern von Gott verliehen. Die Bibel ist das "Wort Gottes". Dieses Wort soll nicht als reines historisches Faktum registriert werden, sondern es muss deutlich werden, dass die Texte Zeugnisse eines lebendigen Gottes sind, der auch heute noch wirkt. Die biblischen Glaubenszeuignisse sind nicht historisch, sondern aktuell, denn ihre Bedeutung reicht bis in unsere Zeit. Der biblische Text muss während des hermeneutischen Prozesses dahingehend untersucht werden, inwiefern man ihn als Aufruf Gottes an uns heute deuten kann. Wozu ruft uns Gott auf? Die dadurch erlangten Erkenntnisse sollen helfen, uns in dieser Welt zurecht zu finden.
Thomas Schmidle, 08.04.03, GK Religion 13